Autorin: Rayen Cornejo-Torres
Übersetzung: Johanna Gschnitzer
Was ist der Bereich der Oral History? – anfängliche Herausforderungen
Der Bereich Oral History des Projekts Viena Latina hat sich auf die Dokumentation persönlicher Migrationserfahrungen mittels biographischer Interviews konzentriert. Um dieses Ziel zu erreichen, war die Mitarbeit unserer Citizen Scientists von grundlegender Bedeutung. Das Oral-History-Team besteht aus 32 Community-Mitgliedern, die die Herausforderung angenommen haben, sich in der Produktion von qualitativen Informationen im Rahmen der persönlichen und historischen Erinnerungsarbeit weiterzubilden.

Bild 1: Rayen Cornejo Torres erklärt den Ansatz von Oral History
Lernmethoden und Beteiligungsformen
Um das genannte Ziel zu erreichen, haben die Citizen Scientists an einem Zyklus aus drei theoretisch-praktischen Workshops teilgenommen. Der erste Workshop bestand aus einer Einführung in die Methode der Oral History. Dabei wurden Themen behandelt wie die Entstehung und Entwicklung dieser Methode sowie ihre ethischen, politischen und demokratischen Begründungen. Darüber hinaus konnten die Citizen Scientists die Möglichkeiten und Grenzen der Erinnerungsarbeit im Rahmen der Dokumentation mündlicher Quellen als Zugang zur Vergangenheit kennenlernen.

Bild 2: Gemeinsame Aktivität beim ersten Oral-History-Workshop
Die zweite Fortbildungsveranstaltung hatte zum Ziel, die Citizen Scientists mit den technischen Aspekten der Durchführung biographischer Interviews vertraut zu machen. Zu diesem Zweck wurden praktische Trainingseinheiten durchgeführt, in denen die Citizen Scientists die verschiedenen Interviewleitfäden, die für die Dokumentation von Lebensgeschichten entwickelt wurden, gegenseitig angewendet haben. Auf diese Weise konnte das Team die in der ersten Sitzung besprochenen Konzepte und das praktische Wissen aus ihren Erfahrungen als Interviewer*innen und Interviewte anwenden. Nach der Veranstaltung begannen die Citizen Scientists damit, die Lebensgeschichten von Mitgliedern der lateinamerikanischen und karibischen Community in Wien zu dokumentieren.

Bild 3: Das Oral-History-Team beim zweiten Workshop nach Erhalt der Interview-Portfolios
Das dritte Treffen fand während der Durchführungsphase der biografischen Interviews statt. Diese Gelegenheit diente dazu, gemeinsam die gemachten Erfahrungen zu reflektieren, offene Fragen zu klären und das erarbeitete Wissen auszutauschen. Aus der Diskussion gingen auch Analysekategorien hervor, die in Interpretationsworkshops berücksichtigt werden sollen. Diese Workshops werden in der nächsten Projektphase von anderen Mitgliedern der Community durchgeführt.


Bilder 4 und 5: Arbeitsgruppen der Citizen Scientists teilen ihre Erfahrungen aus dem Interviewprozess

Bild 6: Gemeinsame Diskussion von Analysekategorien im Rahem des dritten Workshops
Beiträge unserer mitwirkenden Citizen Scientists
Als Team von Viena Latina sind wir sehr dankbar für die Beiträge unserer mitwirkenden Citizen Scientists. Dank dieser kollektiven Arbeit konnten für den Bereich Oral History mehr als 70 biografische Interviews durchgeführt werden. Diese wurden transkribiert und werden derzeit von Rayen Cornejo Torres, der jeweiligen interviewten Person und den mitarbeitenden Citizen Scientists gemeinsam editiert. Im Folgenden finden Sie allgemeine Einschätzungen zum Oral-History-Prozess:
„Die Erfahrungen anderer lateinamerikanischer Migrant*innen zu hören und zu verinnerlichen – zusätzlich zu meinen eigenen – bereichert mein Verständnis von Migration lateinamerikanischer Menschen nach Europa zutiefst. Meine Einfühlsamkeit ist dabei, sich zu erweitern, ebenso wie meine Wertschätzung gegenüber mir selbst und anderen Menschen. Die Toleranz und Achtung gegenüber jeder Frau und jedem Mann, die den mutigen Schritt in die offene und unberechenbare Welt der Interkulturalität gewagt haben, berühren mein Innerstes. Meine Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die diese Workshops möglich gemacht haben, ist aufrichtig und tief. Diese Begegnungen und das Projekt „Viena Latina” im Allgemeinen leisten nicht nur einen Beitrag zur Anerkennung der lateinamerikanischen Migrationsgeschichte im europäischen Kontext, sondern würdigen diese und hinterlassen Spuren, die sicherlich auch in kommenden Generationen noch wertvollere Früchte tragen werden. Danke von Herzen!” (Lysabel Urbano, Citizen Scientist Oral History)
„Der Oral-History-Workshop hat mir Werkzeuge gegeben, nicht nur um die wichtige Aufgabe der Sammlung von Migrationsgeschichte der lateinamerikanischen Community in Wien professionell durchzuführen, sondern auch für meine persönliche, intellektuelle und gemeinschaftliche Entwicklung. In den Workshops haben wir uns beim Reflektieren über den Migrationsprozess kennengelernt. Es ist eine Lern- und Schaffensgemeinschaft – weit mehr als nur eine schöne Erfahrung.” (Pablo Volenski, Citizen Scientist Oral History)
„An dem Projekt „Viena Latina” als Citizen Scientist für den Bereich der Oral History teilzunehmen, ist – ohne Übertreibung – eine aufschlussreiche Erfahrung. Sie bringt uns näher an die kollektive Erfahrung heran und lädt uns ein, sie gemeinsam zu verändern. Sie eröffnet uns neue Perspektiven auf persönliche Erfahrungen, indem wir einen Raum für historisch-emotionale Zeugnisse schaffen, die uns ausmachen. Ich halte das für notwendig – und auch für wunderschön.” (Natalia Hurst, Citizen Scientist Oral History)
Reflexionen zur Anwendung des Citizen-Science-Ansatzes
Der Dokumentationsprozess individueller Migrationserfahrungen war aus mehreren Gründen bedeutend. Aus Sicht der Citizen Scientists haben die Workshops und die verschiedenen Phasen des Dokumentationsprozesses (Anwendung der Interviews, Transkription und Co-Editing) es ermöglicht, die Selbstwahrnehmung der lateinamerikanischen und karibischen Migrationsgemeinschaft zu verflechten. Um dies zu erreichen, waren gemeinsame und systematische Überlegungen entscheidend. Daraus gingen zentrale Themen hervor: die Bewahrung des historischen Gedächtnisses, die Anerkennung der Migrationserfahrung aus Sicht der Betroffenen sowie die Sichtbarmachung des soziokulturellen Beitrags lateinamerikanischer und karibischer Menschen zur sozialen Kartografie Wiens, um nur einige zu nennen.
Ebenso bot der Interviewprozess den Interviewten die Gelegenheit, Aspekte ihrer Migrationserfahrung zu teilen, die sie bisher nicht ausdrücken konnten. Die Möglichkeit, ihre Geschichte den Citizen Scientists zu erzählen, die ähnlichen Migrationshintergründe teilen, ermöglichte eine Wissensproduktion, in der sich die Community selbst erforscht – oder, in den Worten unserer Citizen Scientists: „Wissenschaft aus der Community heraus machen.“ Darüber hinaus wurden die Dialogräume – sowohl zwischen Citizen Scientists und Interviewten als auch im Plenum der Citizen Scientists während der drei Workshops – als wichtige Momente empfunden, um Migrationserfahrungen zu verarbeiten.
Folglich ist das Lernen der Citizen Scientists nicht nur auf die Veröffentlichung der Lebensgeschichten im digitalen Archiv von Viena Latina ausgerichtet, sondern trägt auch zur Aktivierung von gemeinschaftlichen Empowerment-Prozessen bei, die derzeit stattfinden.